Es ist dunkel. Nur eine Leuchtstofflampe flackert unregelmäßig und entlässt ihr charakteristisches Klirrgeräusch in den weiten Hallraum einer bedrohlich anmutenden Betonarchitektur. Vor einer riesigen Turbine steht eine Gruppe junger Männer mit Umhängetaschen wie eingefroren da. Sie lauschen, dann greifen sie in ihre Taschen, legen Schutzbekleidung und Vermummung an und steigen tiefer in die Katakomben des sie umgebenden Versorgungstrakts hinab.
Sebastian Weises Dokumentarfilm Exil (2020) ist eine Beobachtung aus der Mitte einer Gruppe von Graffiti-Sprühern in Wien, die im Sommer 2019 in mehreren Nächten aufgezeichnet wurde. Der Titel, ein selbst gewähltes, inneres Exil, steht für den Lebensmodus der Protagonisten, die gegenüber Freunden, Partner*innen und Familie ihr Doppelleben aufrechterhalten. Denn ihr nächtliches Hobby besteht darin, strafbare Handlungen zu begehen. Nur dafür sind sie heute Nacht hier, getrieben
vom Willen aufs Ganze zu gehen und von der Angst, dabei in die Fänge von Sicherheitsdiensten und Strafverfolgungsbehörden zu geraten. Der Film begleitet die Gruppe, wie sie sich Zugang zu einem unterirdischen Labyrinth aus Abstellgleisen, Lüftungsschächten und Wartungsanlagen verschafft und dabei behutsam und flink zugleich in immer neue Räumlichkeiten vorstößt.
Nur langsam und zaghaft treten auf der Tonebene einzelne, synthetische Flächen aus den Ambient-Geräuschen der Maschinenräume hervor. Die handgeführte Kamera wird dabei so ruhig und überlegt manövriert, dass man schon fast bereit wäre, die Heimlichkeit der ganzen Aktion infrage zu stellen. Doch dieser Eindruck hält nicht lange an, denn schon im nächsten Bild harrt sie mit den Akteuren in einem Versteck unterhalb der Abstellgleise aus, während ein Bediensteter der Verkehrsbetriebe, um die Beobachtung nicht wissend, an den Eindringlingen vorbeigeht. Im letzten Drittel des Films wird dann - untermalt von berauschenden Arpeggios aus Alex.Dos Soundtrack - doch noch gesprüht, bis die Dosen leer sind, und während die Kollegen schon fluchtbereit am Ausgang lauern, nimmt sich einer der Akteure noch mit einem Fatcap die Innenräume des Wagons und die Zugführerkabine vor. Dieser Energie-
schub bei den Protagonisten überträgt sich auch auf Kamera und Schnitt: Es geht jetzt schneller, links, rechts, links, POV, nichts wie weg, dann taumelt die Kamera, verschwommenes Flutlicht, hektische Schritte auf dem Kies des Gleisbetts und auch die Soundflächen pitchen plötzlich runter, pitch black, Abspann.
Bemalte U-Bahnen sind in Wien übrigens fast nie zu sehen. Sie werden vorher aussortiert und in die Reinigungsschleife geschickt. Den Sprühern bleibt die öffentliche Schau ihrer Bemühungen zumeist nicht vergönnt. Auch in Exil werden uns keine fertigen Werke präsentiert. Um sie scheint es hier nicht zu gehen, sondern um die Handlung an sich und um den Nervenkitzel, der offenbar zu den Beweggründen der Akteure zählt. Alles Denkbare an spektakulär-dreisten und halsbrecherischen Aktionen im Bereich Graffiti wurde bereits filmisch verwertet und kann in den einschlägigen Kanälen schon öffentlich betrachtet werden, bevor die Farbe ganz getrocknet ist. Mit dieser Art von Graffiti-Video hat Sebastian Weises Film so gut wie nichts gemeinsam. Vielmehr zeigt er genau das, was in den Selbstdarstellungen der Szene ausgespart wird. Er ist hautnah an den Figuren, die trotz ihrer Abgebrühtheit und Souveränität, bisweilen unsicher und fragil erscheinen, wenn Sie ins Ungewisse der dunklen Räume vordringen. Der Beobachter ist hier nicht nur ins Geschehen eingebettet, er ist ein funktionierendes Glied im eingeschworenen Kreis der wortlos kommunizierenden Akteure und muss das hundertprozentige Vertrauen seiner Komplizen innehaben. Diese besondere Nähe, die sich in den Film einschreibt, ist für den Autor und Künstler nicht ganz preislos zu haben. Denn er steht „gegenüber den Protagonisten im Wort“, den Film nicht öffentlich zu zeigen „bis etwaige juristische Ansprüche verjährt sind.“
Diese Rahmenbedingungen verankert Sebastian Weise im Konzept seiner Arbeit Exil und macht die ausgewählten Betrachter*innen zu Mitwisser*innen und Kompliz*innen seiner künstlerischen Aktion. Denn zur Präsentation der Arbeit hat er ein Abteil in einem Berliner Self-Storage angemietet und die komplette Ausstellungssituation in einer hölzernen Transportkiste wie ein trojanisches Pferd dort eingeschleust. Das ist gleich auf mehreren Ebenen konsequent: Zuallererst behält der Künstler dadurch die Kontrolle über den Kreis der Zuschauer*innen. Im Innern der Transportkiste finden diese ein mit Veloursteppich ausstaffiertes, kleines Kino vor. Der Film kann auf einer Rückprojektionsleinwand mit Kopfhörern betrachtet werden, wobei die beengte Sitzposition in etwa den Platzverhältnissen im U-Bahnschacht entspricht, durch den sich die Protagonisten im Film vorkämpfen müssen. Vor allem aber macht sich der Künstler durch die Nutzung eines Mietlagers als Ausstellungsort die gleiche Raumforderung zu eigen, mit der die von ihm porträtierten Graffiti-Sprüher ins Feld ziehen. Man greift hier parasitär auf eine kommerzielle Infrastruktur zurück und
findet - durch die akribische Vorarbeit des Auskundschaftens - Lücken in einem System, das auf den ersten Blick vollständig geregelt, kontrolliert und überwacht zu sein scheint. Für die Besucher*innen, die gemeinsam mit Sebastian Weise die von unaufdringlicher Radiomusik beschallten Korridore des Lagerhauses entlang gehen, ergibt sich eine fast schon theatrale Situation. Man will sich unauffällig verhalten, vielleicht versucht man sogar vor den unzähligen Überwachungskameras so zu wirken, als wäre man mit irgendeinem dienstlichen oder privaten Auftrag hier. Das sind performative Aspekte, die der künstlerischen Praxis von Sebastian Weise alles andere als fremd sind.
Körper, Kamera und Raum sind die Elemente seiner Arbeit. Besondere Beachtung verdienen deshalb auch zwei kleine, reduzierte Videoarbeiten, die beiden Hochformate Happy End (2017) und Boy Next Door (2018), an denen sich seine künstlerischen Methoden wie an einem Exoskelett erkennen lassen. Sein Interesse gilt einer performativen Form von Videokunst, der Video-Performance, die ihre eigenen Gesetzlichkeiten hat und sich beidseitig von den Genres Performance und Film abgrenzen lässt. Im Gegensatz zur Live-Performance, die als Video dokumentiert wird, ist hier das Aufzeichnungsmedium integraler Bestandteil des Konzepts und die Bearbeitung des Materials im Schnittprogramm wird von Anfang an mitgedacht. Die Aufzeichnung dient daher nicht als bloßer Nachweis für die eigentliche Performance, die einmalig und unwiederbringlich stattgefunden hat. Auf der anderen Seite, sind die Handlungen, die vor der Kamera vollzogen werden, auch kein Schauspiel, das die Darstellung eines Vorgangs zum Ziel hat, sondern sie folgen Regeln, die von den Künstler*innen frei bestimmt werden.
Diese Handlungsanweisungen lassen sich im Fall von Happy End folgendermaßen zusammenfassen: Ein Performer richtet die Kamera seines Mobiltelefons mit weit ausgestrecktem Arm auf sich selbst und vollführt eine Art Steigerungslauf. Er erhöht stetig die Frequenz seiner Schritte und Atmung bis zu dem Punkt, an dem die Grenze seiner körperlichen Ausdauer erreicht ist und er in sich zusammenfällt.
Gegen wen oder was läuft der Performer an? Es ist das Aufzeichnungsmedium, die Bild- und Tonaufnahme selbst, deren Eigenschaften hier auf die Probe gestellt werden: In gleichem Maße, wie der Körper zunehmend an die Belastungsgrenze gebracht wird und die Schnappatmung des Performers den drohenden Kollaps ankündigt, versagt auch das Medium unter den Zumutungen der Aufnahmesituation und scheitert daran, das Geschehen adäquat abzubilden. Stattdessen treten Kompressionsartefakte und Stabilisierungsfehler zutage. Während der Ton sich überschlägt, abtaucht und sich in heftigen Stößen entlädt, kommt es auf der Bildebene zu immer abstrakter werdenden Verzerrungen, welche die Züge des Performers bald schon als monströse Fratze erscheinen lassen. Das Video endet abrupt in dem Moment der größtmöglichen Abstraktion in Bild und Ton und vermutlich mit dem körperlichen Zusammenbruch des Protagonisten.
Nicht allein die Performance Art, sondern auch das Medium Film dient der Kunstform Video-Performance als Referenz. Das wird anhand der Arbeit Boy Next Door (2018) besonders deutlich. Man spricht im Filmjargon gerne von einer unsichtbaren vierten Wand, durch die die Kamera auf das Geschehen blickt und die die Zuschauer*innen von der dargestellten Handlung trennt. Boy Next Door kann als Auseinandersetzung mit dem Paradigma der vierten Wand gelesen werden:
Der Performer agiert nicht einfach vor der Kamera, sondern mit ihr, wendet sich ihr ostentativ zu oder von ihr ab und deklamiert in alle vier Richtungen die Variationen seines persönlichen Mantras: “I don’t know! you know! (It’s) like!” Es wirkt so, als habe sich der Autor das Transkript einer alltäglichen Konversation vorgeknöpft und nur die Füllwörter und sinnentleerten Phrasen unterstrichen, die nun in ständiger Wiederholung, durch die wechselnde Intonation und Mimik des Akteurs, neue Anklänge von Bedeutung erhalten. “You know, but I, I don’t know…” Plötzlich richtet sich der Sprecher auf und läuft ungebremst gegen eine Wand, von der er hart und schmerzhaft abprallt. Hat er sich in der Richtung vertan? Oder sind alle Wände gleichermaßen undurchdringlich und am Ende bleibt auch der Versuch einer direkten Kommunikation in den Grenzen des Mediums gefangen? Sebastian Weise gebraucht die Aufzeichnungen seiner Performance als Schnittmaterial. Er dezimiert es, bricht den zeitlichen Verlauf und rhythmisiert es so, dass ein neues Kontinuum, ein neuer Sinnzusammenhang entsteht.
Schon die Wahl des Formats 9x16, wie bei den meisten mobilen Endgeräten, zeigt sein Interesse an zeitgemäßen Ausdrucksformen. Dies bestätigt sich auch bei dem erwähnten Boy Next Door, dessen Bewegungsabläufe wie auf den Oberkörper übertragene Wischgesten aus einer populären Dating-App erscheinen. Das Telefon gilt als ständiger Wegbegleiter, mobiler Gedankenspeicher und als Eingeweihter in den persönlichen Habitus. Offensichtlich eingelöst wird das in den beiden Textarbeiten Untitled (2020) und Untitled (ein bisschen ambiente und ein bisschen ambition) (2020). Sebastian Weise nutzt hier die Wortvorschläge und Auto-
korrekturen seines iPhones als Stichwortgeber für lyrische Experimente, die zugleich einen Fingerabdruck der privaten Unterhaltungshistorie darstellen. Bei diesem Zugriff aufs Aktuelle geht es aber nicht darum, irgendetwas zugänglicher, leichter teil- und konsumierbar zu machen. Denn vor allem sind die Arbeiten von Sebastian Weise immer auch Installationen, die auf einen konkreten räumlichen Kontext zugeschnitten sind und nur dort ihren Platz haben, sei dieser nun im Galerieraum, im öffentlichen Verkehr oder hinter den Toren eines Self-Storage. Sie besetzen Nischen, konfrontieren, fordern heraus und bringen ihre Betrachter*innen dazu, unbequeme Körperhaltungen einzunehmen. Vor allem treffen sie ins Schwarze, weil sie sich trotz gewichtiger Themen nicht immer allzu ernst nehmen.
Es ist dunkel. Nur eine Leuchtstofflampe flackert unregelmäßig und entlässt ihr charakteristisches Klirrgeräusch in den weiten Hallraum einer bedrohlich anmutenden Betonarchitektur. Vor einer riesigen Turbine steht eine Gruppe junger Männer mit Umhängetaschen wie eingefroren da. Sie lauschen, dann greifen sie in ihre Taschen, legen Schutzbekleidung und Vermummung an und steigen tiefer in die Katakomben des sie umgebenden Versorgungstrakts hinab.
Sebastian Weises Dokumentarfilm Exil (2020) ist eine Beobachtung aus der Mitte einer Gruppe von Graffiti-Sprühern in Wien, die im Sommer 2019 in mehreren Nächten aufgezeichnet wurde. Der Titel, ein selbst gewähltes, inneres Exil, steht für den Lebensmodus der Protagonisten, die gegenüber Freunden, Partner*innen und Familie ihr Doppelleben aufrechterhalten. Denn ihr nächtliches Hobby besteht darin, strafbare Handlungen zu begehen. Nur dafür sind sie heute Nacht hier, getrieben
vom Willen aufs Ganze zu gehen und von der Angst, dabei in die Fänge von Sicherheitsdiensten und Strafverfolgungsbehörden zu geraten. Der Film begleitet die Gruppe, wie sie sich Zugang zu einem unterirdischen Labyrinth aus Abstellgleisen, Lüftungsschächten und Wartungsanlagen verschafft und dabei behutsam und flink zugleich in immer neue Räumlichkeiten vorstößt.
Nur langsam und zaghaft treten auf der Tonebene einzelne, synthetische Flächen aus den Ambient-Geräuschen der Maschinenräume hervor. Die handgeführte Kamera wird dabei so ruhig und überlegt manövriert, dass man schon fast bereit wäre, die Heimlichkeit der ganzen Aktion infrage zu stellen. Doch dieser Eindruck hält nicht lange an, denn schon im nächsten Bild harrt sie mit den Akteuren in einem Versteck unterhalb der Abstellgleise aus, während ein Bediensteter der Verkehrsbetriebe, um die Beobachtung nicht wissend, an den Eindringlingen vorbeigeht. Im letzten Drittel des Films wird dann - untermalt von berauschenden Arpeggios aus Alex.Dos Soundtrack - doch noch gesprüht, bis die Dosen leer sind, und während die Kollegen schon fluchtbereit am Ausgang lauern, nimmt sich einer der Akteure noch mit einem Fatcap die Innenräume des Wagons und die Zugführerkabine vor. Dieser Energie-
schub bei den Protagonisten überträgt sich auch auf Kamera und Schnitt: Es geht jetzt schneller, links, rechts, links, POV, nichts wie weg, dann taumelt die Kamera, verschwommenes Flutlicht, hektische Schritte auf dem Kies des Gleisbetts und auch die Soundflächen pitchen plötzlich runter, pitch black, Abspann.
Bemalte U-Bahnen sind in Wien übrigens fast nie zu sehen. Sie werden vorher aussortiert und in die Reinigungsschleife geschickt. Den Sprühern bleibt die öffentliche Schau ihrer Bemühungen zumeist nicht vergönnt. Auch in Exil werden uns keine fertigen Werke präsentiert. Um sie scheint es hier nicht zu gehen, sondern um die Handlung an sich und um den Nervenkitzel, der offenbar zu den Beweggründen der Akteure zählt. Alles Denkbare an spektakulär-dreisten und halsbrecherischen Aktionen im Bereich Graffiti wurde bereits filmisch verwertet und kann in den einschlägigen Kanälen schon öffentlich betrachtet werden, bevor die Farbe ganz getrocknet ist. Mit dieser Art von Graffiti-Video hat Sebastian Weises Film so gut wie nichts gemeinsam. Vielmehr zeigt er genau das, was in den Selbstdarstellungen der Szene ausgespart wird. Er ist hautnah an den Figuren, die trotz ihrer Abgebrühtheit und Souveränität, bisweilen unsicher und fragil erscheinen, wenn Sie ins Ungewisse der dunklen Räume vordringen. Der Beobachter ist hier nicht nur ins Geschehen eingebettet, er ist ein funktionierendes Glied im eingeschworenen Kreis der wortlos kommunizierenden Akteure und muss das hundertprozentige Vertrauen seiner Komplizen innehaben. Diese besondere Nähe, die sich in den Film einschreibt, ist für den Autor und Künstler nicht ganz preislos zu haben. Denn er steht „gegenüber den Protagonisten im Wort“, den Film nicht öffentlich zu zeigen „bis etwaige juristische Ansprüche verjährt sind.“
Diese Rahmenbedingungen verankert Sebastian Weise im Konzept seiner Arbeit Exil und macht die ausgewählten Betrachter*innen zu Mitwisser*innen und Kompliz*innen seiner künstlerischen Aktion. Denn zur Präsentation der Arbeit hat er ein Abteil in einem Berliner Self-Storage angemietet und die komplette Ausstellungssituation in einer hölzernen Transportkiste wie ein trojanisches Pferd dort eingeschleust. Das ist gleich auf mehreren Ebenen konsequent: Zuallererst behält der Künstler dadurch die Kontrolle über den Kreis der Zuschauer*innen. Im Innern der Transportkiste finden diese ein mit Veloursteppich ausstaffiertes, kleines Kino vor. Der Film kann auf einer Rückprojektionsleinwand mit Kopfhörern betrachtet werden, wobei die beengte Sitzposition in etwa den Platzverhältnissen im U-Bahnschacht entspricht, durch den sich die Protagonisten im Film vorkämpfen müssen. Vor allem aber macht sich der Künstler durch die Nutzung eines Mietlagers als Ausstellungsort die gleiche Raumforderung zu eigen, mit der die von ihm porträtierten Graffiti-Sprüher ins Feld ziehen. Man greift hier parasitär auf eine kommerzielle Infrastruktur zurück und
findet - durch die akribische Vorarbeit des Auskundschaftens - Lücken in einem System, das auf den ersten Blick vollständig geregelt, kontrolliert und überwacht zu sein scheint. Für die Besucher*innen, die gemeinsam mit Sebastian Weise die von unaufdringlicher Radiomusik beschallten Korridore des Lagerhauses entlang gehen, ergibt sich eine fast schon theatrale Situation. Man will sich unauffällig verhalten, vielleicht versucht man sogar vor den unzähligen Überwachungskameras so zu wirken, als wäre man mit irgendeinem dienstlichen oder privaten Auftrag hier. Das sind performative Aspekte, die der künstlerischen Praxis von Sebastian Weise alles andere als fremd sind.
Körper, Kamera und Raum sind die Elemente seiner Arbeit. Besondere Beachtung verdienen deshalb auch zwei kleine, reduzierte Videoarbeiten, die beiden Hochformate Happy End (2017) und Boy Next Door (2018), an denen sich seine künstlerischen Methoden wie an einem Exoskelett erkennen lassen. Sein Interesse gilt einer performativen Form von Videokunst, der Video-Performance, die ihre eigenen Gesetzlichkeiten hat und sich beidseitig von den Genres Performance und Film abgrenzen lässt. Im Gegensatz zur Live-Performance, die als Video dokumentiert wird, ist hier das Aufzeichnungsmedium integraler Bestandteil des Konzepts und die Bearbeitung des Materials im Schnittprogramm wird von Anfang an mitgedacht. Die Aufzeichnung dient daher nicht als bloßer Nachweis für die eigentliche Performance, die einmalig und unwiederbringlich stattgefunden hat. Auf der anderen Seite, sind die Handlungen, die vor der Kamera vollzogen werden, auch kein Schauspiel, das die Darstellung eines Vorgangs zum Ziel hat, sondern sie folgen Regeln, die von den Künstler*innen frei bestimmt werden.
Diese Handlungsanweisungen lassen sich im Fall von Happy End folgendermaßen zusammenfassen: Ein Performer richtet die Kamera seines Mobiltelefons mit weit ausgestrecktem Arm auf sich selbst und vollführt eine Art Steigerungslauf. Er erhöht stetig die Frequenz seiner Schritte und Atmung bis zu dem Punkt, an dem die Grenze seiner körperlichen Ausdauer erreicht ist und er in sich zusammenfällt.
Gegen wen oder was läuft der Performer an? Es ist das Aufzeichnungsmedium, die Bild- und Tonaufnahme selbst, deren Eigenschaften hier auf die Probe gestellt werden: In gleichem Maße, wie der Körper zunehmend an die Belastungsgrenze gebracht wird und die Schnappatmung des Performers den drohenden Kollaps ankündigt, versagt auch das Medium unter den Zumutungen der Aufnahmesituation und scheitert daran, das Geschehen adäquat abzubilden. Stattdessen treten Kompressionsartefakte und Stabilisierungsfehler zutage. Während der Ton sich überschlägt, abtaucht und sich in heftigen Stößen entlädt, kommt es auf der Bildebene zu immer abstrakter werdenden Verzerrungen, welche die Züge des Performers bald schon als monströse Fratze erscheinen lassen. Das Video endet abrupt in dem Moment der größtmöglichen Abstraktion in Bild und Ton und vermutlich mit dem körperlichen Zusammenbruch des Protagonisten.
Nicht allein die Performance Art, sondern auch das Medium Film dient der Kunstform Video-Performance als Referenz. Das wird anhand der Arbeit Boy Next Door (2018) besonders deutlich. Man spricht im Filmjargon gerne von einer unsichtbaren vierten Wand, durch die die Kamera auf das Geschehen blickt und die die Zuschauer*innen von der dargestellten Handlung trennt. Boy Next Door kann als Auseinandersetzung mit dem Paradigma der vierten Wand gelesen werden:
Der Performer agiert nicht einfach vor der Kamera, sondern mit ihr, wendet sich ihr ostentativ zu oder von ihr ab und deklamiert in alle vier Richtungen die Variationen seines persönlichen Mantras: “I don’t know! you know! (It’s) like!” Es wirkt so, als habe sich der Autor das Transkript einer alltäglichen Konversation vorgeknöpft und nur die Füllwörter und sinnentleerten Phrasen unterstrichen, die nun in ständiger Wiederholung, durch die wechselnde Intonation und Mimik des Akteurs, neue Anklänge von Bedeutung erhalten. “You know, but I, I don’t know…” Plötzlich richtet sich der Sprecher auf und läuft ungebremst gegen eine Wand, von der er hart und schmerzhaft abprallt. Hat er sich in der Richtung vertan? Oder sind alle Wände gleichermaßen undurchdringlich und am Ende bleibt auch der Versuch einer direkten Kommunikation in den Grenzen des Mediums gefangen? Sebastian Weise gebraucht die Aufzeichnungen seiner Performance als Schnittmaterial. Er dezimiert es, bricht den zeitlichen Verlauf und rhythmisiert es so, dass ein neues Kontinuum, ein neuer Sinnzusammenhang entsteht.
Schon die Wahl des Formats 9x16, wie bei den meisten mobilen Endgeräten, zeigt sein Interesse an zeitgemäßen Ausdrucksformen. Dies bestätigt sich auch bei dem erwähnten Boy Next Door, dessen Bewegungsabläufe wie auf den Oberkörper übertragene Wischgesten aus einer populären Dating-App erscheinen. Das Telefon gilt als ständiger Wegbegleiter, mobiler Gedankenspeicher und als Eingeweihter in den persönlichen Habitus. Offensichtlich eingelöst wird das in den beiden Textarbeiten Untitled (2020) und Untitled (ein bisschen ambiente und ein bisschen ambition) (2020). Sebastian Weise nutzt hier die Wortvorschläge und Auto-
korrekturen seines iPhones als Stichwortgeber für lyrische Experimente, die zugleich einen Fingerabdruck der privaten Unterhaltungshistorie darstellen. Bei diesem Zugriff aufs Aktuelle geht es aber nicht darum, irgendetwas zugänglicher, leichter teil- und konsumierbar zu machen. Denn vor allem sind die Arbeiten von Sebastian Weise immer auch Installationen, die auf einen konkreten räumlichen Kontext zugeschnitten sind und nur dort ihren Platz haben, sei dieser nun im Galerieraum, im öffentlichen Verkehr oder hinter den Toren eines Self-Storage. Sie besetzen Nischen, konfrontieren, fordern heraus und bringen ihre Betrachter*innen dazu, unbequeme Körperhaltungen einzunehmen. Vor allem treffen sie ins Schwarze, weil sie sich trotz gewichtiger Themen nicht immer allzu ernst nehmen.
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